Wir beginnen mit einem actiongeladenen Bild von Karla auf der Stadtmauer. |
Mittwoch, 13.02. Nach
4,5 Stunden Busfahrt Riga–Tallinn werden wir leider nicht an dem Busbahnhof
rausgeschmissen, den ich erwartet habe. Verunsichert bestellen wir uns einfach
ein Taxi (über die unkomplizierte App Taxify), denn hier kann man sich das
leisten. 15 Minuten später kommen wir bei unserer Wohnung an. Wir haben sie auf
airbnb gefunden und sind begeistert. Geräumig, modern, sauber und hell. Und nur
fünf Minuten von der Altstadt entfernt.
Diese erkundigen
wir neugierig und in Pinguinschrittchen. Hier scheint es keine Räum- und
Streupflicht zu geben – die Gehwege sind vereist und spiegelglatt. Egal wie
viele Touris drüberwatscheln werden, die Esten. Räumen. Ihre. Gehwege. Nicht.
Als ich das erste
Mal Estnisch höre, verwechsle ich es kurz mit Italienisch. Die Intonation ist
wirklich vergleichbar, aber Estnisch ist süßer. Die Sprache ist gespickt mit
Umlauten, Doppelvokalen, Doppelumlauten und dem eigenen Buchstaben õ.
Und die Esten
haben echt tolle vegetarische Restaurants in Tallinn, stellen wir fest. Mit
supersympathischen Kellnerinnen. Am Donnerstag gönnen wir uns Mittagessen im Vegan Restauran V, was ein sehr innovativer Name ist. Es liegt in der Straße Rataskaevu 12, und wenn
Google Übersetzer nicht lügt, heißt Rataskaevu nichts weiter als Trolle. Das
fänd‘ ich schon cool. Jedenfalls ist das Essen dort kreativ, vegan, bezahlbar,
schön anzusehen und natürlich lecker! Und die Servicekräfte wissen genau, was
sie verkaufen und können einem alles (in bestem Englisch) erklären.
Angetan spazieren
wir daraufhin durch die Altstadt. Wir müssen zugeben, dass wir auch in
Deutschland sein könnten. Wir stellen Diversität und eindeutig sowjetische
Einschläge in der Architektur Rigas der UNESCO-Weltkulturerbe-Altstadt Tallinn
gegenüber. Hans spricht sich definitiv für Tallinn aus. Hier ist alles besser
in Stand gehalten, das muss ich zugeben. Aber ich finde Riga nach wie vor
interessanter, denn nach jeder Straßenecke findet man etwas Neues. Es ist
übrigens nicht verwunderlich, dass uns die estnische Stadt an Deutschland
erinnert. Die Häuser wurden unter anderem von Deutschen gebaut und viele
asiatische Touristengruppen laufen auch herum. Es sind generell mehr Touristen
als in Riga.
Fakt des Tages:
Das Wort „Tallinn“ bedeutet „dänische Stadt“. Die Tendenz, dass die Balten nie
eine eigene Identität zugesprochen bekamen, verstärkt sich mit jedem Ort, den
ich hier kennenlerne. Denn genau wie Lettland wurde Estland im Laufe der
Geschichte von ungefähr jedem Land mal eingenommen. Und genau wie die Letten
sind die Esten jetzt, wo sie seit bereits 100 (beziehungsweise 28*) Jahren
unabhängig sind, umso stolzer auf ihr kleines Land und ihre mühsam
aufrechterhaltene Kultur.
Versteckte mittelalterliche Gässchen! |
Ist das Kunst? |
Eine begeisterte Karla in der seltenen Wintersonne. |
Hans mit Flasche und Altstadt :p |
Schneestadt. |
Karla mit Stadt, ohne Flasche. |
Abends gehen wir Minigolfen. Aber nicht irgendein Minigolf, sondern „CityJungle Adventure Golf“! Es ist drinnen, im Dunkeln, mit Schwarzlicht, leuchtenden Effekten und einer sich teilweise bewegenden Dschungellandschaft. An sich eine super Sache. Leider ist eine große Kindergruppe parallel zu uns da und besonders herausfordernd oder spannend sind die Golfkurse and sich nicht, nur eben das Drumherum.
Am Freitag schließen
wir uns der free walking tour an und lernen nicht nur, dass Tallinn seine Stadtmauern größtenteils stehengelassen hat und immer noch 26 von ursprünglich 46 Stadtmauertürmen erhält (und diese heute entweder Cafés
oder Museen beherbergen), sondern auch, dass man für eine estnische
Steuererklärung höchsten sechs Minuten braucht. Ihr habt richtig gehört. Ein
Traum. Hier geht man nicht nur online wählen – auch alle Rechnungen etc. (was
auch immer man für die Steuererklärung braucht) sind in einem Online-System
untergebracht und müssen nur noch abgehakt werden. Kohärent zu dieser modernen
Lebensweise geben 70% der Esten an, konfessionslos zu sein. Damit sind sie
eines der „unreligiösesten“ Länder der Welt. Zum Vergleich: in Deutschland
sagen nur 35 % der Bevölkerung aus, keiner Religion anzugehören (Stand 2016).
Witzig, dass es trotzdem so viele Kirchen das Tallinner Stadtbild prägen.
Nachmittags wagen
wir uns aus der touristischen Altstadt heraus und laufen die 10min zum Meer.
Vorbei an einem Start-up, in dem junge Menschen Tischtennis spielen. Am Meer
gibt es eine mit Bauzaun abgesperrte „Promenade“, die im Sommer bestimmt ein
hipper Platz für die Tallinner Jugend ist. Im Februar begegnen wir hier genau
zwei Spaziergängern und einem Mann mit Hund. Man könnte sehr viel mehr aus
diesem Teil der Stadt machen, aber die etwas verlassene und industrielle
Atmosphäre hat auch etwas. Wir finden ein altes Gefängnis mit Meerblick und
einem Herz im Maschendrahtzaun. Plakativ.
Wir bleiben
alternativ und marschieren zum Kulturzentrum Telliskivi Loomelinnak. Leider
stellen wir fest, dass das meiste davon nur tagsüber geöffnet hat. Aber auch
nachts hat die Gebäudezusammenstellung und ihr riesiger Innenhof einfach
Charme. Ein paar Bilder und Kunstgegenstände hängen herum, und die jungen betuchteren
Tallinner gehen essen und später in den Club. Wir gehen nur essen.
Am nächsten
Vormittag bringt uns der Bus wieder nach Riga zurück. Tallinn hat einen guten
Eindruck hinterlassen. Bestimmt auch, weil wir die drei Tage lang unfassbar
gutes Wetter hatten – Sonne und Plusgrade! Und das im Baltikum, im Februar! Es
ist der wärmste Winter seit langem, und das ist schon ein bisschen gruselig.
"Die Promenade" und die Ostsee. |
Durch dieses winzige Türchen kommt man von der Promenade zum Gefängnis. |
Jemand mit Humor kritzelte dies an die (wohl super überwachte) Gefängnismauer. |
~ Wort des Tages: Tere. Es wird eher „därä“ ausgesprochen. Niedlich. Tere ist das estnische Wort für Hallo, und sie lieben es. Ausdrücke für Guten Morgen oder Guten Tag haben wir nie gehört – es ist immer einfach tere!
Karla
*Ihr fragt euch,
warum 100 oder 28 Jahre? Naja, zwischendurch wurden die Esten (so wie die
anderen Balten auch) eben noch einmal von der UdSSR annektiert, aber mit
parallel existierender estnischer Exilregierung, sodass sie faktisch kontinuierlich
(seit 1918) unabhängig waren.