Mittwoch, 27. Februar 2019

Sie stehen sehr auf Stadtmauern

Wir beginnen mit einem actiongeladenen Bild von Karla auf der Stadtmauer.
Hans und ich haben uns Tallinn, Estland angeschaut.

Mittwoch, 13.02. Nach 4,5 Stunden Busfahrt Riga–Tallinn werden wir leider nicht an dem Busbahnhof rausgeschmissen, den ich erwartet habe. Verunsichert bestellen wir uns einfach ein Taxi (über die unkomplizierte App Taxify), denn hier kann man sich das leisten. 15 Minuten später kommen wir bei unserer Wohnung an. Wir haben sie auf airbnb gefunden und sind begeistert. Geräumig, modern, sauber und hell. Und nur fünf Minuten von der Altstadt entfernt.
Diese erkundigen wir neugierig und in Pinguinschrittchen. Hier scheint es keine Räum- und Streupflicht zu geben – die Gehwege sind vereist und spiegelglatt. Egal wie viele Touris drüberwatscheln werden, die Esten. Räumen. Ihre. Gehwege. Nicht.
Zumindest weniger als die Letten.


Seltenes Exemplar: ein geräumter Gehweg.
Als ich das erste Mal Estnisch höre, verwechsle ich es kurz mit Italienisch. Die Intonation ist wirklich vergleichbar, aber Estnisch ist süßer. Die Sprache ist gespickt mit Umlauten, Doppelvokalen, Doppelumlauten und dem eigenen Buchstaben õ.
Und die Esten haben echt tolle vegetarische Restaurants in Tallinn, stellen wir fest. Mit supersympathischen Kellnerinnen. Am Donnerstag gönnen wir uns Mittagessen im Vegan Restauran V, was ein sehr innovativer Name ist. Es liegt in der Straße Rataskaevu 12, und wenn Google Übersetzer nicht lügt, heißt Rataskaevu nichts weiter als Trolle. Das fänd‘ ich schon cool. Jedenfalls ist das Essen dort kreativ, vegan, bezahlbar, schön anzusehen und natürlich lecker! Und die Servicekräfte wissen genau, was sie verkaufen und können einem alles (in bestem Englisch) erklären.

Angetan spazieren wir daraufhin durch die Altstadt. Wir müssen zugeben, dass wir auch in Deutschland sein könnten. Wir stellen Diversität und eindeutig sowjetische Einschläge in der Architektur Rigas der UNESCO-Weltkulturerbe-Altstadt Tallinn gegenüber. Hans spricht sich definitiv für Tallinn aus. Hier ist alles besser in Stand gehalten, das muss ich zugeben. Aber ich finde Riga nach wie vor interessanter, denn nach jeder Straßenecke findet man etwas Neues. Es ist übrigens nicht verwunderlich, dass uns die estnische Stadt an Deutschland erinnert. Die Häuser wurden unter anderem von Deutschen gebaut und viele asiatische Touristengruppen laufen auch herum. Es sind generell mehr Touristen als in Riga.

Fakt des Tages: Das Wort „Tallinn“ bedeutet „dänische Stadt“. Die Tendenz, dass die Balten nie eine eigene Identität zugesprochen bekamen, verstärkt sich mit jedem Ort, den ich hier kennenlerne. Denn genau wie Lettland wurde Estland im Laufe der Geschichte von ungefähr jedem Land mal eingenommen. Und genau wie die Letten sind die Esten jetzt, wo sie seit bereits 100 (beziehungsweise 28*) Jahren unabhängig sind, umso stolzer auf ihr kleines Land und ihre mühsam aufrechterhaltene Kultur.



Tallinner Häuser sind meist schön hell und farbig.
Versteckte mittelalterliche Gässchen!
Ist das Kunst?
Eine begeisterte Karla in der seltenen Wintersonne.

Hans mit Flasche und Altstadt :p

Schneestadt.

Karla mit Stadt, ohne Flasche.

Abends gehen wir Minigolfen. Aber nicht irgendein Minigolf, sondern „CityJungle Adventure Golf“! Es ist drinnen, im Dunkeln, mit Schwarzlicht, leuchtenden Effekten und einer sich teilweise bewegenden Dschungellandschaft. An sich eine super Sache. Leider ist eine große Kindergruppe parallel zu uns da und besonders herausfordernd oder spannend sind die Golfkurse and sich nicht, nur eben das Drumherum.

Am Freitag schließen wir uns der free walking tour an und lernen nicht nur, dass Tallinn seine Stadtmauern größtenteils stehengelassen hat und immer noch 26 von ursprünglich 46 Stadtmauertürmen erhält (und diese heute entweder Cafés oder Museen beherbergen), sondern auch, dass man für eine estnische Steuererklärung höchsten sechs Minuten braucht. Ihr habt richtig gehört. Ein Traum. Hier geht man nicht nur online wählen – auch alle Rechnungen etc. (was auch immer man für die Steuererklärung braucht) sind in einem Online-System untergebracht und müssen nur noch abgehakt werden. Kohärent zu dieser modernen Lebensweise geben 70% der Esten an, konfessionslos zu sein. Damit sind sie eines der „unreligiösesten“ Länder der Welt. Zum Vergleich: in Deutschland sagen nur 35 % der Bevölkerung aus, keiner Religion anzugehören (Stand 2016). Witzig, dass es trotzdem so viele Kirchen das Tallinner Stadtbild prägen.

Nachmittags wagen wir uns aus der touristischen Altstadt heraus und laufen die 10min zum Meer. Vorbei an einem Start-up, in dem junge Menschen Tischtennis spielen. Am Meer gibt es eine mit Bauzaun abgesperrte „Promenade“, die im Sommer bestimmt ein hipper Platz für die Tallinner Jugend ist. Im Februar begegnen wir hier genau zwei Spaziergängern und einem Mann mit Hund. Man könnte sehr viel mehr aus diesem Teil der Stadt machen, aber die etwas verlassene und industrielle Atmosphäre hat auch etwas. Wir finden ein altes Gefängnis mit Meerblick und einem Herz im Maschendrahtzaun. Plakativ.
Wir bleiben alternativ und marschieren zum Kulturzentrum Telliskivi Loomelinnak. Leider stellen wir fest, dass das meiste davon nur tagsüber geöffnet hat. Aber auch nachts hat die Gebäudezusammenstellung und ihr riesiger Innenhof einfach Charme. Ein paar Bilder und Kunstgegenstände hängen herum, und die jungen betuchteren Tallinner gehen essen und später in den Club. Wir gehen nur essen.
Am nächsten Vormittag bringt uns der Bus wieder nach Riga zurück. Tallinn hat einen guten Eindruck hinterlassen. Bestimmt auch, weil wir die drei Tage lang unfassbar gutes Wetter hatten – Sonne und Plusgrade! Und das im Baltikum, im Februar! Es ist der wärmste Winter seit langem, und das ist schon ein bisschen gruselig.


"Die Promenade" und die Ostsee.
Durch dieses winzige Türchen kommt man von der Promenade zum Gefängnis.
Jemand mit Humor kritzelte dies an die (wohl super überwachte) Gefängnismauer.




~ Wort des Tages: Tere. Es wird eher „därä“ ausgesprochen. Niedlich. Tere ist das estnische Wort für Hallo, und sie lieben es. Ausdrücke für Guten Morgen oder Guten Tag haben wir nie gehört – es ist immer einfach tere!

Karla


Wir enden mit einem harmonischen Bild von Hans und Karla auf der Stadtmauer.

*Ihr fragt euch, warum 100 oder 28 Jahre? Naja, zwischendurch wurden die Esten (so wie die anderen Balten auch) eben noch einmal von der UdSSR annektiert, aber mit parallel existierender estnischer Exilregierung, sodass sie faktisch kontinuierlich (seit 1918) unabhängig waren.

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